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Ein Gespräch mit Prof. Dr.-Ing. Holger Kohl – Wie Kreislaufwirtschaft Realität wird
Veröffentlicht am 2. Sep. 20255 min Lesezeit
Prof. Dr.-Ing. Holger Kohl © Fraunhofer IPK
Die Transformation zur Kreislaufwirtschaft ist kein Selbstläufer. Fehlende Standards, hohe Investitionshürden und mangelnde Daten bremsen viele Unternehmen noch aus.Gleichzeitig entstehen Innovationen, die zeigen: Zirkuläre Wertschöpfung ist machbar – und sie eröffnet neue Chancen für Wirtschaft, Umwelt und Gesellschaft.
Prof. Dr.-Ing. Holger Kohl begleitet diese Entwicklung seit Jahrzehnten. Im Interview erklärt er, warum Regulierung allein nicht reicht – und wie der Circular Economy Hub Berlin Unternehmen als digitaler Kompass für Kreislaufwirtschaft unterstützt.
Herr Professor Dr.-Ing. Kohl, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit nachhaltiger industrieller Wertschöpfung und der Transformation von Produktionssystemen – lange bevor Kreislaufwirtschaft zum Schlagwort wurde. Welche Hürden sehen Sie heute hinsichtlich einer echten Transformation zu einer Kreislaufwirtschaft? Welche Entwicklungen stimmen Sie hoffnungsvoll?
Die Transformation zu einer Kreislaufwirtschaft betrifft uns alle. Sie erfordert ein tiefgreifendes Umdenken von Politik, Industrie und Gesellschaft. Aufgrund von zunehmendem Ressourcenmangel, Handelsbarrieren und der Notwendigkeit, Generationengerechtigkeit und eine globale, faire Verteilung von Ressourcen zu gewährleisten, müssen die bislang mehrheitlich linear ausgerichteten industriellen Wertschöpfungssysteme grundlegend umgestaltet werden. Dabei besteht in vielen Bereichen noch großer Handlungsbedarf: Es fehlen standardisierte Verfahren – von der zirkulären Produktgestaltung bis hin zu effizienten Rücknahme- und Wiederaufbereitungsprozessen. Für kleine und mittlere Unternehmen sind insbesondere hohe Anfangsinvestitionen, unzureichende Anreize und fehlende Finanzierungsperspektiven eine Herausforderung. Viele Unternehmen können sich die Umstellung ihrer Wertschöpfungsprozesse schlichtweg nicht leisten und erkennen zumeist auch keine Marktpotenziale durch einen Wechsel zur Kreislaufwirtschaft. Gleichzeitig mangelt es in vielen Organisationen noch an belastbaren Daten, klaren Zuständigkeiten sowie an Wissen und Zeit, um sich strategisch mit kreislaufwirtschaftlichen Alternativen auseinanderzusetzen.
Trotz dieser Herausforderungen und Barrieren gibt es bereits heute viele positive und erfolgreiche Entwicklungen. Bereits in den 1990er Jahren haben wir uns aus produktionstechnischer Perspektive mit der Thematik der Kreislauffähigkeit auseinandergesetzt. Schon damals wünschten wir uns, produktbezogene Daten auch während der Nutzungsphase erheben und analysieren zu können, um Informationen über den gesamten Lebenszyklus transparent zu machen. Aus technischer Sicht war das damals jedoch kaum möglich noch wirtschaftlich sinnvoll. Heute sehen wir, dass die Einführung eines digitalen Produktpasses nicht nur technisch realisierbar ist, sondern sich dank der neuen EU-Ökodesign-Verordnung auch mitten in der Umsetzung befindet. Hinzu kommt, dass insbesondere in der Gründerszene immer mehr innovative Ansätze entstehen, die zeigen, wie sich Kreislaufwirtschaft von Anfang an erfolgreich in Geschäftsmodelle integrieren lässt und sogar zum Kern und Alleinstellungsmerkmal des Geschäftsmodells wird. Diese Impulse tragen dazu bei, dass sich Innovationszyklen beschleunigen, beispielsweise in den Bereichen zirkuläre Produktgestaltung, Lebensdauerverlängerung und serviceorientierte Nutzungskonzepte. Ergänzt wird das durch eine Vielzahl von Projekten und Initiativen, die sich mit der Umstellung zur Kreislaufwirtschaft beschäftigen, Aufmerksamkeit schaffen, Unternehmen miteinander vernetzen und konkrete Umsetzungen vorantreiben.
Seit 2024 arbeiten Sie an dem Aufbau eines digitalen Kompetenzhubs, dem Circular Economy Hub Berlin – welche Ziele verfolgen Sie mit diesem Projekt und welche konkreten Opportunitäten sehen Sie für die Berliner Kreislaufwirtschaft entstehen?
Der Circular Economy Hub Berlin ist Teil eines Projekts, das im Rahmen des Masterplans Industriestadt Berlin 2022–2026 umgesetzt wird. Im Zentrum steht hierbei das Ziel, eine interaktive, digitale, kostenfreie und jederzeit zugängliche Online-Plattform zu schaffen, die die industrielle Kreislaufwirtschaft in der Hauptstadtregion systematisch stärkt. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Unterstützung kleiner und mittlerer Betriebe (KMU).
Zunächst einmal geht es um die Stärkung des Bewusstseins für kreislaufwirtschaftliche Konzepte und Strategien in der Berliner Industrielandschaft. Doch was bedeutet Kreislaufwirtschaft überhaupt? Warum sollten sich Berliner KMU mit dieser Thematik auseinandersetzen? Welche Maßnahmen können Unternehmen ergreifen, um die Kreislaufwirtschaft praktisch umzusetzen? Und welche Unternehmen im Großraum Berlin haben bereits Lösungen implementiert, von denen andere Unternehmen lernen können? Solche Fragen versuchen wir mithilfe von prägnanten Text- und Videoinhalten sowie Gastbeiträgen von Expert*innen zu beantworten. Dabei möchten wir nicht nur die zentralen Vorteile und Potenziale der Kreislaufwirtschaft aufzeigen, sondern auch konkrete und praxisorientierte Umsetzungsmöglichkeiten vermitteln. Der Hub bietet hierfür eine übersichtliche Darstellung erprobter Methoden und Werkzeuge, Orientierungen zu regulatorischen Anforderungen, einen Überblick über Förderprogramme und relevante Anlaufstellen sowie konkrete Good Practices aus der Hauptstadtregion.
Berlin eignet sich dafür besonders gut, denn die Stadt verfügt über eine vielfältige und innovative Industrie sowie eine hohe Dichte an Universitäten, Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Berlin gilt als wichtige Metropole und Hotspot der deutschen Start-up-Szene. Zudem verfügt die Stadt über eine sehr dynamische und engagierte Zivilgesellschaft. Damit bietet Berlin ideale Voraussetzungen, um sich als Modellregion für die industrielle Kreislaufwirtschaft zu etablieren. Als größte Stadt Deutschlands verfügt Berlin zudem über ein enormes urbanes Ressourcenpotenzial, also über Produkte und Komponenten, die lokal recycelt oder wiederverwendet werden können. Kurze Wege, eine gut ausgebaute Recyclinginfrastruktur und eine motivierte Bevölkerung können ein ideales Umfeld schaffen, um zirkuläre Lösungen unter urbanen Bedingungen umzusetzen. Dabei kann die Kreislaufwirtschaft nicht nur zum Ressourcenschutz, sondern auch zur Standortsicherung, zum wirtschaftlichen Wachstum und zur Schaffung zukunftsfähiger Arbeitsplätze beitragen. Dieses Potenzial möchten wir mit dem Hub sichtbar machen.
Ein Schwerpunkt Ihrer Forschung ist die Verbindung von Nachhaltigkeit, Ökonomie und sozialer Ausrichtung in der Industrie. Wie können Kreislaufwirtschafts-Ansätze in Unternehmen all diese drei Dimensionen gleichzeitig adressieren?
Eine echte Kreislaufwirtschaft funktioniert nur ganzheitlich und adressiert so im Idealfall automatisch alle drei Dimensionen der Nachhaltigkeit. Der ökologische Vorteil ist offensichtlich: Ressourceneinsätze werden minimiert, Emissionen gesenkt, Stoffkreisläufe geschlossen und Abfälle vermieden. Doch hieraus ergibt sich auch direkt ein großer wirtschaftlicher Mehrwert, denn Ressourceneffizienz bedeutet in den allermeisten Fällen langfristig auch Einsparung von Kosten. Darüber hinaus können Unternehmen, die auf langlebige, reparierbare und wiederverwendbare Produkte und Bauteile setzen, ihre Abhängigkeit von volatilen Rohstoffmärkten reduzieren. Hierdurch entstehen auch neue Wertschöpfungspotenziale, beispielsweise durch Wiederverwendung, Remanufacturing oder durch zirkuläre Geschäftsmodelle, die die ökonomische Resilienz von Unternehmen stärken. Genau über diese Vorteile müssen sich Unternehmen bewusst werden. Und auch, dass durch eine frühzeitige Transformation der eigenen Wertschöpfungsprozesse ein wettbewerblicher Vorteil gegenüber der Konkurrenz entstehen kann. In Hinblick auf die soziale Dimension entstehen so auch neue Formen der Beschäftigung, die neue Qualifikationsanforderungen mit sich bringen. Dies führt zu neuen Jobprofilen, beispielsweise im Bereich der Rücknahme, Wiederaufbereitung oder Reparatur von Produkten und Komponenten. Zusätzlich wird die regionale Wertschöpfung gestärkt, weil viele zirkuläre Dienstleistungen lokal erbracht werden können. All dies erfordert jedoch, dass Unternehmen die Kreislaufwirtschaft als strategisches Zukunftsthema verstehen und sich möglichst frühzeitig mit den Möglichkeiten auseinandersetzen, entsprechende Ansätze intern umzusetzen. Der Circular Economy Hub Berlin kann hierbei eine erste Anlaufstelle sein, um sich mit der Thematik vertraut zu machen.
Welche Anreize oder Mechanismen sollten diesbezüglich geschaffen werden? Welche Rolle kann und müssen die EU bzw. Nationale Regierungen darüber hinaus spielen?
Wie bereits erwähnt, fehlt es in vielen Fällen noch an angemessenen standardisierten Methoden und erforderlichen Anreizen, um die Kreislaufwirtschaft effektiv umzusetzen. Eine Transformation braucht jedoch klare Leitplanken und gezielte Anreize. Die EU setzt hier wichtige Impulse mit dem European Green Deal und politischen Regularien wie der Ökodesign-Verordnung und dem Recht auf Reparatur. Und auch auf nationaler Ebene haben wir mit der Nationalen Kreislaufwirtschaftsstrategie endlich eine klare strategische Ausrichtung hin zur Kreislaufwirtschaft seitens der deutschen Politik. Entscheidend wird sein, dass diese Regulierungen und Strategiepapiere von der Industrie nicht als Bürden wahrgenommen werden, sondern als Impulsgeber für Innovation und neue Geschäftsmodelle. Dafür muss der Staat jedoch auch einen Teil des Risikos übernehmen und Förderprogramme, Finanzierungsinstrumente und praxisnahe Unterstützungsangebote ausgebaut werden. Zudem braucht es gezielten Kompetenzaufbau und zum Teil auch Pioniergeist in der Industrie. Ein Digitaler Produktpass nützt wenig, wenn Unternehmen nicht wissen, wie sie ihn mit relevanten Daten füllen sollen. Genau hier setzt auch unser Circular Economy Hub Berlin an, doch das allein reicht natürlich nicht aus. Wir brauchen mehr Experimentierräume, mehr interdisziplinäre Leuchtturmprojekte und eine engere Zusammenarbeit zwischen Forschung, Industrie und Politik. Mit dem Circular Economy Hub Berlin wollen wir dazu beitragen, Berlin zu einem Labor für urbane Kreislaufwirtschaft in Deutschland zu machen.
Übrigens: Einen Überblick über zentrale Regularien der industriellen Kreislaufwirtschaft können Interessierte schon jetzt auf unserer Website kostenlos herunterladen.
Wir danken Ihnen ganz herzlich für das spannende Gespräch!
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